Ein Wunder. Das Wunder von Ambri. Mit sechs Siegen in zehn Tagen den SC Bern noch abgefangen. Sportchef Paolo Duca hat eine Gegenfrage: «Sind Sie gläubig?» Bevor er eine Antwort bekommt, fährt er fort: «Es ist kein Wunder. Ein Wunder ist etwas anderes.» Aber wunderschön sei es schon. «Wir haben unseren Fans etwas gegeben, das sie nicht kaufen können: Einen Abend, den sie nie mehr vergessen werden. Wer am Montag im Stadion war, wird sich immer an dieses Spiel erinnern.»
Gänsehaut, die
— MySports (@MySports_CH) March 14, 2022
durch psychische Faktoren (Ergriffenheit) bewirkte Veränderung des Aussehens der Haut, auf der die Haarbälge hervortreten und die Haare sich aufrichten
Nachgeschlagen in der Gottardo Arena beim @HCAP1937. #NationalLeague pic.twitter.com/iihEABJSYg
Am Montagabend hat Ambri die Lakers 6:2 besiegt. Weil der SC Bern gleichzeitig gegen Lausanne 1:4 verloren hat, bestreitet nun Ambri die Pre-Playoffs. Nicht der SCB. «Wir können nie gross und mächtig sein wie der SCB», sagt Trainer Luca Cereda. «Dass wir den Kampf um Platz 10 gerade gegen den SCB gewonnen haben, darauf dürfen wir stolz sein.» Er kennt den SCB: Im Frühjahr 2004 kommt er aus Nordamerika zurück und beendet die Saison beim SCB mit dem Meistertitel. 2005 kehrt er heim nach Ambri.
Ein Wunder mag es der Sportchef also nicht nennen. Aber ein Wunder ist es eigentlich schon. Ambri hat nach der Olympia-Pause mit vier Niederlagen gegen Lausanne (2), Zug und Servette begonnen. Und dann diese Serie von sechs Siege gegen Fribourg-Gottéron (2), Biel, Bern (2) und die Lakers.
Wie ist so etwas möglich? Wir können die Zahlen analysieren, im Internet nach Ambri-Sagen googeln, ein paar Telefonate machen und daraus eine hübsche Story machen. Reicht das? Wird das diesem historischen Hockey-Moment gerecht? Nein. Es ist wieder einmal Zeit für eine Fahrt durch die mächtigen Berge hinüber nach Ambri. Paolo Duca sagt am Hosentelefon: «Kommen Sie einfach vorbei.» Gegen Mittag sei das Training zu Ende. Dann habe er Zeit und Trainer Luca Cereda auch. Die beiden sind gleich alt (40) und führen Ambris Sportabteilung seit fünf Jahren und haben die gleichen Verträge: Jederzeit kündbar auf sechs Monate.
Das Hochtal der Leventina wirkt jetzt karg und öde. Kein Winterwunderland mehr und noch kein kraftvoller Bergfrühling. Die neue Valascia am Rande des ehemaligen Armee-Flugfeldes sieht um die Mittagszeit nicht aus wie ein Kraftort unseres Hockeys. Eher wie eine Montagehalle für Jumbo-Jets. Keine Magie. Aber gerade darin liegt auch ein Teil der Erklärung für das Wunder.
Luca Cereda und Paolo Duca haben Zeit. Ein Gespräch mit den zwei neben Filippo Lombardi wichtigsten Männern Ambris ist stets etwas ganz Besonderes. Wie eine Rückkehr in die «Belle Epoque», als alles noch ein wenig geerdeter war. Als es noch so etwas wie eine Romantik im Hockey gab.
Im Sportbusiness von heute haben alle reden gelernt wie Politiker. Viel reden und nichts sagen. Die moderne Kunst der Desinformation. Vor diesem Hintergrund wirken Luca Cereda und Paolo Duca wie aus der Zeit gefallen. Sie sagen einfach, was ist. Nie ist in unserem Hockey die Differenz zwischen dem, was gesagt, gedacht und gemeint ist, geringer als bei einer Unterhaltung mit Ambris Trainer und Sportchef.
Luca Cereda erzählt, wie er diesen Schlussspurt zu einer Serie von «Game Seven» gemacht habe: Zu siebten Spielen einer Playoffserie, die nicht verloren werden dürfen. Ambri konnte sich keine Niederlage mehr leisten. Sonst hätte es Bern geschafft. «Solche Spiele werden nicht gespielt», sagt Luca Cereda. «Sie werden gewonnen.» Diese Message sei verstanden worden. Er habe sich einfach um eine positive Körpersprache bemüht und beruhigend zu wirken versucht. Keine Kabinenpredigten. Keine Motivationstricks. Das ist es: Keine Magie. Hinter dem Wunder steckt einfach die ehrliche Arbeit eines grossen Trainers.
Ambris Saison ist nun gerettet. Platz 10. Pre-Playoffs. Aber ruhmreich war sie ansonsten nicht. Auch deshalb, weil der Sportchef bei der Verpflichtung der Ausländer kein Glück hatte und seinem Trainer fürs letzte Spiel nur noch zwei zur Verfügung stellen konnte. Das stellt er nicht in Abrede. Und sagt, warum seine Autorität trotzdem nicht gelitten hat: «Wenn wir ein Problem haben, dann suchen wir keine Schuldigen. Dann suchen wir gemeinsam Lösungen. So war es schon immer. Deshalb gibt es uns noch.»
Ambris Sportchef hat auch in diesem Fall eine Lösung gefunden: Den finnischen Torhüter Janne Juvonen. «Wir hatten in Zug 2:8 verloren. Wir mussten etwas tun.» Das erste Spiel mit Janne Juvonen verliert Ambri gegen Servette 1:5. Und dann folgen die sechs Siege hintereinander mit Fangquoten zwischen 92,00 und 100 Prozent für den Goalie. Die Ruhe und die Sicherheit, die der Finne in die Mannschaft gebracht habe, sei ein wichtiger Faktor. Allmählich wird klar, warum Paolo Duca nicht von einem Wunder reden mag. Was Ambri soeben erreicht hat, entspricht einfach der Kultur seines Klubs: Lösungen suchen. Lösungen finden.
Und so ganz nebenbei verspricht er Besserung bei der künftigen Rekrutierung des ausländischen Personals: «Wir haben für nächste Saison erst einen Ausländer unter Vertrag ...» Es ist Filip Chlapik (24). Topskorer der höchsten Liga in Tschechien (53 Spiele/70 Punkte). Und zuletzt im Zentrum einer heftigen Polemik in seinem Land, weil er nicht für das olympische Turnier aufgeboten worden ist. Gibt es einen Aufsteiger, sind nächste Saison sechs Ausländer erlaubt. Paolo Duca hat dann fünf Arbeitsplätze offen. Einen wird er wohl mit einem Torhüter besetzen.
Ein erfolgreicher Trainer hat Charisma. Er füllt mit seiner Präsenz einen Raum. Luca Ceredas Charisma ist seine Bescheidenheit. Seine Art, das zu sagen, was er denkt und was er will. Direkt, bestimmt und doch freundlich. Keine Sprüche. Autorität durch Authentizität. Sein, nicht Schein. Diese letzten Tage seien aufregend gewesen. «Ich konnte meistens nicht vor 4.00 Uhr schlafen. Zu viel Adrenalin ...» Was ihn über den Tag hinaus freut und beruhigt: «Nun wissen wir, dass wir Ambris Geist von der alten in die neue Valascia hinübergerettet haben.»
Das war es ja, was ihn, was auch Paolo Duca umgetrieben hatte: Würde Ambris Geist, diese Leidenschaft, dieser unbeugsame Wille auch in der neuen Umgebung, in der neuen Arena einziehen? Nun ist klar: Ambri ist auch im neuen Tempel Ambri geblieben. Ewiges Ambri.
⚪️🔵Che spettacolo🤩Resilienza, cuore, determinazione, famiglia💙 pic.twitter.com/iQKyhAPsJq
— HC Ambrì Piotta (@HCAP1937) March 14, 2022
Ja, in der neuen Arena finden wir sogar doch noch so etwas wie Magie. Im Eishockey gibt es einen Aberglauben: Niemals das Logo des Klubs in der Garderobe betreten. Niemals! Das ist auch in der NHL so.
Wir trinken in der Kabine noch einen Kaffee. Damit der Chronist beim Heimfahren wach bleibt. Da fällt ihm auf: Auf dem Kabinenboden gibt es kein Logo. Was ist hier los? Und dann erst sieht er: Das blaue Logo prangt wunderbar an der Decke. Paolo Duca lacht. «Das haben wir aus praktischen Gründen so gemacht. Damit wir nicht ständig aufpassen müssen, um nicht über das Logo zu stolpern ...»
Das Logo am Kabinenhimmel: Das gefällt, ja, das muss den Hockey-Göttern gefallen. Kein Wunder, waren sie in den letzten zehn Tagen mit Ambri.
Schade findet man in Langnau keine Magie mehr... bin wohl ein Fan des falschen Dorfclubs.